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072 - 18.11.2022

Ich sitze im letzten Wagen

Es gibt Geschichten, die einem immer mal wieder begegnen.
Sie sind schön, der Inhalt wertvoll, aber sie ziehen an einem vorüber, halten sich nicht fest.
Doch in einer besonderen Lebenssituation taucht so eine Geschichte plötzlich wieder auf und trifft einen mit voller Wucht.
So ging es mir vor ein paar Wochen mit der folgenden Geschichte, Verfasser unbekannt: 

Jedes Jahr wurde Max von seinen Eltern in den Sommerferien zu den Großeltern gebracht. Am selben Tag fuhren sie mit dem Zug zurück, sie mussten arbeiten.
Eines Tages sagte Max zu seinen Eltern: „Ich bin jetzt groß. Ich möchte alleine zu Oma und Opa fahren.“
Die Eltern berieten sich kurz und willigten dann ein. Sie brachten Max zum Bahnhof und warteten gemeinsam auf den Zug, alle ein bisschen aufgeregt.
Bevor der Zug einfuhr, flüsterte der Vater Max zu: „Wenn du dich plötzlich schlecht fühlst oder ängstlich wirst, nimm das hier.“
Er reichte ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier, Max steckte es in seine Hosentasche. Und dann stieg er ein und die Fahrt begann. Er ssß ein wenig verloren auf seinem Platz ­- im Zug, ohne die Eltern, zum ersten Mal.
Die Landschaft zog vorbei, Unbekannte hetzten von Abteil zu Abteil, machten Lärm, der Schaffner sprach Max an, weil er alleine war. Max schien es, als ob die Mitreisenden ihn mitleidig anschauten.
Er fühlte sich immer unwohler und bekam Angst. Er kuschelte sich in eine Ecke des Sitzes, Tränen standen ihm in den Augen.
Plötzlich erinnerte es sich daran, dass sein Vater ihm einen Zettel mitgegeben hatte.
Mit zitternden Fingern suchte er das Stück Papier, öffnete es und las: Mein Kind, ich sitze im letzten Wagen.
Erleichterung machte sich in ihm breit und es meisterte daraufhin die Fahrt „alleine“.

Ich wünsche mir, dass jeder von uns liebende Menschen kennt, die auf unserer Reise im letzten Wagen sitzen.
Ein Leben lang.
Immer bereit, nach vorne zu kommen und einen Teil des Weges neben einem zu sitzen, vielleicht mit etwas Proviant und einem heißen Getränk, um die Fahrt angenehmer zu machen. Und die ansonsten wissen, dass man seine Reise alleine meistern kann und sich in den letzten Wagen zurückziehen.
Immer da. Immer nah.