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021 - 20.11.2020

Vorgelesen bekommen - einmal angefixt, hält die Liebe ein Leben lang

Kleinen Kindern etwas vorzulesen, ist ja normal. Aber was ist, wenn man seine Kinder so angefixt hat, dass sie nie aufhören, Vorlesen schön zu finden? Dann liegt man im Urlaub auf der Sonnenliege und liest auch seinen über 20jährigen Kindern vor, inzwischen z.B. Krimis von Agatha Christie.

Angefangen haben wir natürlich mit den üblichen Bilder- und Kinderbüchern (die alle aufzuzählen würde diesen Blog sprengen) und natürlich Märchen.
Schön ist es, wenn die Kleinen das R noch nicht aussprechen können: „Bitte, bitte Donöschen. Da wusch die Hecke iesengos.“ Hach, da liest man doch gerne vor.
Und mein großer Sohn murmelt heute noch bei Aufgaben, die er eigentlich nicht tun möchte: „Ich arme Jungfer zart, ach hätt ich genommen den König Drosselbart.“ Wer auch immer von uns in der Nähe ist, steigt spätestens bei zart in das Zitat mit ein. Dann grinsen wir uns an und die Welt sieht schon wieder freundlicher aus.

Natürlich konnten die Kinder dann irgendwann selber lesen. Wir hatten erfolgreich ihr Interesse und die Lust am Lesen, an Büchern, an Sprache und Geschichten geweckt. Trotzdem wollten sie nie aufs Vorlesen verzichten.

Das ist wie mit der Scheibe Fleischwurst beim Metzger. Wenn man klein ist, bekommt man sie immer mit einem Lächeln über die Theke gereicht. Kaum ist man größer, hört das auf und ich habe mich schon immer gefragt, warum?
Denken die, man mag keine Fleischwurst mehr, nur weil man 7 Jahre alt ist?
Denken die, nur weil man 7 Jahre alt ist und lesen kann, mag man kein Vorlesen mehr?
Einmal angefixt und dann allein gelassen. Nicht nett.
Übrigens habe ich eine total liebe Verkäuferin beim Metzger meines Vertrauens. Einmal habe ich ihr von meinem Kindheitstrauma erzählt und prompt bekomme ich immer eine Scheibe Fleischwurst geschenkt, wenn ich bei ihr einkaufe. 

Aber zurück zum Thema. Ich habe natürlich weiter vorgelesen.
Dann kam ein Urlaub in Spanien und ich las „Rasmus und der Landstreicher“ von Astrid Lindgren vor. Nicht nur die Kinder, sondern auch mein Mann hörten gespannt zu und wischten sich alle drei die Augen, als Rasmus erzählt, dass er nicht genommen wird, weil er kein Mädchen mit blonden Locken ist.
Danach war für alle klar, dass ich außer den Vorleseeinheiten während des ganzen Jahres im Urlaub ein Buch vorlesen muss, dass die gesamte Familie hören möchte.

Zum Glück trat dann Harry Potter von J. K. Rowling in unser Leben. Wir Eltern waren schon ganz in die Welt der Zauberer abgetaucht und mussten noch brav ein Jahr auf den jeweils nächsten Band warten. Deswegen las ich auch den Kindern nur einen Band in den Sommerferien vor und dann mussten die zwei auf den nächsten Urlaub warten. Alle waren also im Lese- und Wartewahn gleichermaßen gefangen, nur zeitversetzt.
Dann erschien der sechste Band einen Tag vor unserem nächsten Sommerurlaub, da kaufte ich kurzentschlossen zwei Exemplare, da mein Mann und ich gleichzeitig in jeder freien Minute lesen wollten (ausgelesen bekam dann das zweite Buch ein geduldigerer Neffe). Das hat unsere Kinder so beeindruckt, dass sie uns einen Lesetag im Urlaub schenkten, an dem wir nichts machen mussten, sie bedienten uns mit Getränken und brachten uns Leckereien nach draußen, damit wir ganz viel Lesen konnten.
Ein so großartiges Geschenk, ich bin heute noch ganz gerührt und begeistert.
An den anderen Tagen im Urlaub las ich „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ vor und das Leben war wunderbar.
Zweimal in diesen Jahren musste ich das Buch an meinen Mann weiterreichen, da ich vor Tränen nicht mehr in der Lage war, vorzulesen: Beim Tod von Dobby und bei der Beerdigung von Dumbledore.

Als dann alle Bücher gelesen waren, stellte sich die Frage aller Fragen: Gibt es ein Vorleseleben nach Harry Potter? Wir konnten es uns nicht vorstellen.
Nach einem Dreivierteljahr und kurz vor dem nächsten großen Sommerurlaub ging ich dann zu der Buchhändlerin meines Vertrauens und schilderte ihr unser großes Problem.
Mit „Bartimäus – Das Amulett von SamarKand“ von Jonathan Stroud im Gepäck fuhr ich nach Hause und anschließend in den Urlaub und wir hatten auch mit diesem Buch eine vergnügte Zeit.
Viele, viele Bücher folgten und ich durfte bis heute nicht damit aufhören, ein Buch im Urlaub vorzulesen.

Wie gesagt, einmal angefixt ...