Am Zeitgeist vorbei: Ich hasse Fahrradfahren!
In den letzten Jahren habe ich mit Verwunderung festgestellt, dass ich anscheinend die einzige Person bin, die Fahrradfahren für den menschlichen Körper als ungeeignet empfindet. Die Haltung beschert mir regelmäßig Rückenschmerzen, egal welches Modell ich benutze (und ich habe im Laufe meines Lebens viele Fahrräder besessen und ausprobiert) und alle Sättel bringen mich irgendwann um.
Außerdem habe ich festgestellt, dass es unterschiedliche Konditionen bei Sportarten gibt. Ich kann nach einem schwimmlosen Winter problemlos in einer ordentlichen Zeit 1000 Meter im Freibad schwimmen, aber fahre ich mal ein paar Wochen kein Fahrrad, komme ich kaum über die Kennedybrücke in die Bonner Innenstadt! Das finde ich ungerecht. Aber mein Körper weiß vielleicht einfach, was ihm nicht guttut und sendet mir eindeutige Signale. Inzwischen gehe ich auch weite Strecken lieber zu Fuß, als dass ich Fahrrad fahre.
Jetzt mag jemand anmerken, dass ich vielleicht nicht genug Erfahrung mit dem Fahrradfahren habe. Da kann ich nur sagen: Meine drei Geschwister und ich sind komplett ohne Auto aufgewachsen (aus Überzeugung), mein Vater hat mit 50 Jahren aus Spaß den Führerschein gemacht und ihn dann in die Schublade gelegt, meine Mutter hat nie fahren gelernt und so sind wir stets bei Wind und Wetter Fahrrad gefahren; ich kannte nichts anderes.
Den Führerschein haben zwar dann alle vier Kinder mit 18 Jahren gemacht (meine Eltern fanden inzwischen, dass das zur Bildung dazugehört), aber den ersten Wagen haben mein Mann und ich uns mit der Geburt unserer Tochter gekauft, da war ich 30 Jahre und habe erneut das Autofahren lernen müssen, mit einem mitunter schreienden Säugling im Maxi-Cosi auf der Rückbank, das war nicht witzig. Trotzdem hatten wir natürlich Fahrradkindersitze, Fahrradanhänger und was es sonst noch so alles gibt. Für kurze Strecken, für die Umwelt und als gutes Vorbild für die Kinder.
Und was soll ich sagen: Ich hasse Fahrradfahren, immer und für alle Zeiten.
Aber einmal hatte es auch etwas Gutes: Eine Fahrradtour brachte nämlich ungeahnte Englischsprachkenntnisse zu Tage und außerdem die Tatsache, dass ich aus Verzweiflung lügen kann:
Wer mich also kennt, wundert sich nicht, das ich die letzten Meter zum Bahnhof in Scarborough nur mit letzter Kraft auf meinem schwerbepackten Fahrrad zurücklegte.
Der wundert sich nur, warum ich überhaupt so was mache.
Es war ein Entschluss aus Herzensangelegenheiten, ein Urlaub mit dem Fahrrad durch Schottland und England, aber er gehört in die Kategorie: „Muss man mitgemacht haben, macht man nie wieder!“
Mein Freund regelte in England alles, er konnte besser Englisch, da hat man so seine Hemmungen. Sacrborough war die vorletzte Station unserer Reise in England. Von da wollten wir mit dem Zug nach York reisen und dann nur noch die kleine Strecke nach Hull radeln, um die Fähre nach Rotterdam zu nehmen. Er wollte die Fahrkarten kaufen, sowie unseren Fahrradtransport regeln.
Nach langer Zeit kehrt er zurück. Mit schlechten Nachrichten: In den Zügen von Scarborough nach York werden nie Fahrräder transportiert. Schlechte Nachrichten? Katastrophe!
Mir war klar: Es geht nicht? Das geht nicht.
In mir bäumte sich alles auf! Außerdem konnte ich plötzlich Englisch. Wortlos ließ ich meinen Freund stehen und ging zum Häuschen des Stationsvorstehers. Nach zehn Minuten kehrte ich zurück und saget: „Sag’ jetzt nichts und komm einfach mit“. Der Stationsvorsteher begleitete uns zu dem bereitstehenden Zug nach York, half uns die Räder in das Abteil zu stellen. Verschloss diesen Einstieg und versah ihn mit einem Zettel, auf dem stand, dass man an einer anderen Tür einsteigen sollte.
Dann reichte er uns noch vier leckere belegte Brote durch das Fenster und nahm bewegt Abschied von mir. Mein Freund fragte erschüttert, was ich denn diesem Mann erzählt hatte und da gestand ich, dass ich von meiner Mutter, die plötzlich erkrankt sei, berichtet hatte, und dass ich rechtzeitig das Schiff nach Rotterdam kriegen muss, damit ich so schnell wie möglich zu ihr kommen kann ... mir kamen selbst fast die Tränen - allerdings vor Erschöpfung und Erleichterung, nicht noch einmal auf dieses Fahrrad steigen zu müssen. Die Brote ließ ich mir schmecken und war der Meinung, dass außer mir bestimmt auch der Stationsvorsteher glücklich war, weil er mit der Gewissheit ins Bett gehen konnte, eine gute Tat vollbracht zu haben.
Abends vor dem Einschlafen wurde es mir aber dann doch etwas mulmig und ich rief noch schnell meine Mutter an und erkundigte mich nach ihrer Gesundheit. Es ging ihr gut, inzwischen ist sie 91 Jahre alt, meine Notlüge hat zum Glück nicht das kosmische Gleichgewicht erschüttert und sich an ihr oder mir gerächt.
Ende gut, alles gut.