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053 - 11.02.2022

Ein Schuhkarton voller Buchstaben

Manchmal braucht mein Gehirn einen Schubs. Und dann geht’s los und die Erinnerungen ploppen hoch wie Popcorn.
Gestern geschah das mit einem beschrifteten Schuhkarton: Christbaumschmuck 1982 stand darauf in der schönen Druckbuchstabenschrift meines Vaters.

Ich bin damit aufgewachsen, dass mein Vater alles aufgeschrieben hat.
Mit alles meine ich: Er hat für jedes seiner vier Kinder ein eigenes Tagebuch geführt. Ausführlich und mit tollen Ergänzungen, wie zum Beispiel die abgelösten Aufkleber der Hipp-Gläschen von 1967. Oder einen Zeitungsartikel, in dem ein Spielzeug zurückgerufen wurde, weil es für Kleinkinder zu gefährlich war. So bekam ich zusätzlich zu den Informationen, welcher meiner Schneidezähne zuerst durchgebrochen ist, wie meine ersten Wörter lauteten und wann ich sie das erste Mal gesprochen habe, ein Stück Zeitgeschichte mitgeliefert.
Als mein erstes Kind geboren wurde, bekam ich mein Tagebuch von 1967 geschenkt und an jedem weiteren Geburtstag das nächste. So wurde die Entwicklung meines Kindes mit Geschichten, Gedanken und Nachweisen aus meiner Kindheit begleitet. Es war wunderschön.

Zusätzlich dazu gab es für jedes Kind ein Gesundheitstagebuch, sodass ich genau weiß, ob und wann ich die Windpocken hatte, welche Medikamente ich bekommen habe und bei welchen Ärzten ich war. Mit Uhrzeit. Natürlich waren dort auch alle Impfungen notiert und ich finde bis heute, dass ich den Überblick über meine Impfungen früher nur hatte, weil sie in der schönen Druckschrift meines Vaters viel anschaulicher waren als die Mini-Eintragungen im Impfpass.
Apropos Impfpass. Da hat man jahrelang nicht genau gewusst, wo der sein Leben fristet und jetzt leben wir mit diesen gelben Dingern und hüten sie wie einen Schatz.
Verrückte Zeiten.

Kurz erwähne ich noch, dass ich eines Tages eine kleine Schachtel mit meinen gesamten Milchzähnen und fünf Aktenordner mit meinen Kinderzeichnungen, die mit Datum und Kommentaren auf der Rückseite versehen waren, ausgehändigt bekommen habe. Das sind wirklich einzigartige Schätze.

Von den zahlreichen Fotoalben erzähle ich hier nicht, ich muss schließlich irgendwann noch das Abendessen zubereiten und es ist schon halb drei ...

Habe ich es genauso gemacht, als ich eigene Kinder bekam?
Nicht mal ansatzweise.
Obwohl ich ja wirklich gerne schreibe, mich hier in meinem Blog austobe und gerade dabei bin, mein fünftes Buch zu veröffentlichen, habe ich es nie geschafft, kontinuierlich ein Tagebuch zu führen, weder über Dinge aus meinem Leben noch für meine Kinder, obwohl ich mir das regelmäßig vorgenommen hatte.
Eine Zeitlang fand ich das seltsam, dann schade, aber inzwischen habe ich meinen Frieden damit gefunden. Ich denke, dass man einen inneren Antrieb für etwas haben muss, wenn man es jahrelang mit Elan ausüben möchte. Und den habe ich für Tagebücher nicht entwickelt. 

Ich halte das da eher wie meine Mutter, die immer gesagt hat, dass sie die schönen Ereignisse alle in ihrem Herzen bewahrt.
So mache ich das und mein Herz ist auch groß und dehnbar, da passt einiges rein.

Aber ... es gibt ja auch durchaus Dinge, die schön waren, aber nicht unbedingt spektakulär. Und die kann ich nicht so einfach abrufen. Sie scheinen nicht mehr da zu sein. Was ja nicht schlimm ist, weil ich sie deswegen ja auch nicht vermisse.

Aber dann ... findet die große Schwester beim Ausmisten einen Schuhkarton, beschriftet mit Christbaumschmuck 1982 und schickt ihn mir. Darin sind große Buchstaben, die mit rotem Geschenkband versehen an unserem Christbaum hingen. Einige Buchstaben, wie ein A mit kleinem Kreis auf dem Kopf, erinnern mich sofort an Dänemark.

Und dann ploppen alle Erinnerungen hoch: Wir waren in den Ferien in Dänemark, bei einem Strandspaziergang entdeckten wir ein leerstehendes, ausgebranntes Hotel. Wir natürlich rein (von Einsturzgefahr hatten wir noch nie gehört) und fanden im Eingangsbereich diese Buchstaben. Für uns ein Schatz. Den haben wir dann in unserer Ferienwohnung geschrubbt und Monate später zierten die Buchstaben unseren Weihnachtsbaum als schöne Erinnerung an den Urlaub.

Warum ich das heute hier aufschreibe? Weil ich gemerkt habe, dass in meinem Herzen zwar eine Menge Platz ist für schöne Erinnerungen, dass aber das Gehirn, meines zumindest, einen Schubs braucht, um diese wieder auszupacken.

Ohne den Schuhkarton mit den Buchstaben wären die Erinnerungen des Dänemarkurlaubes weiterhin sehr tief in Hirn und Herz vergraben. Vielleicht für immer.
Sie sind ja auch nichts Sensationelles. Aber sie sind schön.

Und ein Buchstabe, ein Foto, ein Lied, ein Duft, ein Tagebuch, Kinderbilder und Aufzeichnungen, die belegen, dass ich 1972 nie krank war, können eben doch nützlich sein und schöne Erinnerungen hervorbringen. Mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern oder sogar ein paar Tränen der Rührung hervorrufen.

Mir ist klar geworden: Ich habe in meinem Leben die Mitte gefunden zwischen „alles festhalten“ und „alles nur im Herzen bewahren“.
Zwischen Vater und Mutter und von jedem etwas.

So, bevor ich jetzt zu sentimental werde, mach ich mal das Abendessen. 

Da fällt mir ein, in Dänemark gab’s so kunstvoll belegte Butterbrote, Smørrebrød genannt, die waren so lecker ...